Trans Pyrenees Race – wie aus einer Reise ein Rennen wurde

Wer an Ultra-Distance Rennen teil nimmt gehört zu einer besonders zähen Spezies - oder? Es gibt da solche und solche 😄 Ich finde es auf jeden Fall spannend Interviews und Reiseberichte von den verschiedensten Teilnehmern zu lesen und zu lernen, dass es nicht "den einen" richtigen Weg gibt. Vom lockeren ich pendel doch jeden Tag, bis zu einer strukturierten Vorereitung gibt es alles. Pascal Röhm gehört zu denen, die sich auf das Rennen ordentlich vorbereiten wollen und der Rennbericht hier gibt einen schönen Einblick in das Abenteuer Ultra-Race von der Vorbereitung bis zur Zieleinfahrt in totaler Erschöpfung.

Die Route an sich ist natürlich herausfordernd, aber gibt sicher viel Inspiration her für ein Bikepacking Abenteuer, denn Pascal ist auf die Route auch durch das Bikepacking gekommen.

Rennbericht von Pascal Röhm

Versteht mich nicht falsch. Ich liebe es, in Offenbach am Main zu wohnen. Es ist bunt, überraschend, lebendig – aber eben auch voll, schmutzig, laut, stinkend. Um hier Seelenfrieden zu finden, muss man lernen, getunte Motoren genauso gefasst anzunehmen wie 17 gleichzeitig auftretende deftige Küchendünste und Berge, die hauptsächlich aus illegal drapiertem Sperrmüll bestehen. Wie krass war also der Unterschied, als ich beim Bikepacking 2021 kurz hinter Perpignan anhielt: Allein. Natur. Der Wind rauscht durch die Bäume. Vögel zwitschern. Der Geruch von Pinien.

Ich hatte die Return Route des Trans Pyrenees Race aus der komoot Collection ausgewählt und war einfach drauflos gefahren. Beim ersten Blick auf die Pyrenäen war mir klar: Eines Tages muss ich an diesem Rennen teilnehmen.

Was allerdings gar nicht so easy ist – ein Rookie wie ich bekommt natürlich nicht einfach einen Startplatz für ein derart gefragtes Ultracycling Race, nur weil er sich mal zu doll am Geruch der Pinienwälder berauscht hat. Bis auf einige größere Bikepacking-Touren hatte ich nicht viel vorzuweisen. Entsprechend groß ist im Februar 2022 die Freude, als komoot mir eine Zusage organisierte!

Also beginne ich, meine Ausfahrten Training zu nennen und strukturierter an die Sache ranzugehen: Ich erhöhe mein Volumen, peile jede Woche 400 Kilometer an und quäle mich mit gesitteten Intervalleinheiten. Drei Monate vor dem Rennen steigere ich das Pensum auf 700 Kilometer die Woche und absolviere einmal wöchentlich einen Endurance Ride mit 200 bis 300 Kilometern am Stück. Großen Dank an die wahnsinnigen Menschen, die mich bei diesen Trainingsfahrten unterstützt haben! Mit viel Spaß, unzähligen Kuchenstücken, literweise Kaffee und ein bisschen Zähne zusammenbeißen komme ich bis Ende August auf knapp 11.000 Jahreskilometer und fühle mich startklar für das Rennen.

Wer schon mal eine Radreise geplant hat oder mit dem eigenen Rad zum Beispiel nach Mallorca geflogen ist, weiß, wie groß der Aufwand ist. Was packe ich überhaupt ein? Was könnte passieren? Welche Ersatzteile brauche ich für mein Rad, welches Equipment für mich? Für das Trans Pyrenees Race müssen alle Teilnehmer außerdem im Vorfeld ein ärztliches Attest vorlegen, um sicherzugehen, dass sie der Herausforderung gewachsen sind. Beim Basteln der Route mit ihren stabilen 1.600 Kilometern müssen sieben festgelegte Control Points oder Parcours, also vorher festgelegte Punkte beziehungsweise Abschnitte abgefahren werden – alles andere ist der eigenen Fantasie, Abenteuerlust, der eigenen akribischen (oder auch weniger akribischen…) Planung überlassen.

Alles ist bereit. Bis ich drei Wochen vor dem Rennen, wohl etwas zu beseelt von der Vision, das TPR mitfahren zu dürfen, einen Moment unaufmerksam bin und stürze. Diagnose: Sehnenriss im rechten Handgelenk und eine Rippenprellung. Das tut an sich schon fies weh, aber noch fieser ist die Ungewissheit, ob ich an den Start werde gehen können. Ich will so sehr – aber ich weiß nicht, ob „wollen“ überhaupt noch ein relevanter Faktor ist, wenn man beim Lachen denkt, dass einen die eigenen Rippen verprügeln.

Glücklicherweise lässt mein Zustand es zu, dass ich zwei Wochen nach dem Sturz wieder aufs Rad steigen und zumindest kleine Runden fahren kann. Aufatmen! Aber bitte nicht zu doll, die Rippe tut schließlich noch weh.

Zwei Tage vor dem Rennen soll die Registrierung in Saint-Jean-de-Luz in der Nähe von Biarritz stattfinden. Hier erhalten alle Teilnehmer die GPS-Tracker, die Caps mit den Startnummern, die heiligen Brevet Cards, abends gibt es noch ein Safety Briefing.

Also sitze ich am 27. September im Flieger nach Biarritz, gestresst, aufgeregt, erwartungsvoll und vorfreudig – die gesamte emotionale Palette eines Teenagers vorm ersten Date.

Nachtrag vier Wochen nach dem Rennen:

Ich werde ständig von Fressattacken überrascht, mein Fußzeh ist noch immer taub, die Achillessehne knarzt weiterhin bedenklich, das Handgelenk ist geschient und getaped und die Finger bitzeln bei jeder Bewegung. Die nächsten Rennen für 2023 sind schon gemeldet.

Das Rennen Tag für Tag

  • Tag 1: Von Saint-Jean-de-Luz nach Escalona – Trans Pyrenees Race No. 2 (330 km | 14:21 | 5 670 m) Startlinie. 6:25 Uhr. Es ist stockdunkel, nur die Anspannung ist gut sichtbar. 3, 2, 1 und ab geht die Post! Wir starten aus Saint-Jean-de-Luz heraus direkt auf den ersten Parcours (25,5 Kilometer, 470 Höhenmeter). Ich merke erst nach einer guten Stunde, dass ich vergessen habe, meinen Wahoo zu starten – als wäre ich der erste Mensch auf dem Rad. Ich versuche, meinen Flow zu finden, nicht übermütig zu werden, aber auch nicht zu trödeln. Irgendwie geht die Sonne auf, irgendwann beginnt es zu regnen, aber nichts davon bekomme ich in meinem Tunnel des ersten Tages so richtig mit. Den Control Point auf dem Col d'Ispeguy (672 Meter) erreiche ich nach drei Stunden und drei Minuten. Danach habe ich zwei Optionen geplant: Entweder halte ich mich Richtung Süden, also direkt nach Spanien, fahre 40 Kilometer mehr, spare dafür 1.000 Höhenmeter oder halte mich Richtung Osten und bleibe noch etwas länger auf der französischen Seite. Ich entscheide mich für die erste Variante, biege südlich ab und wähle eine einladend aussehende kleine Nebenstraße entlang der Hauptstraße. Ein Teil der Erzählung: Es gibt keinen Verkehr, ich bin ganz allein. Andere Teile der Erzählung: Ich bin wohl deshalb ganz allein, weil entweder alle anderen bei dem kalten Nieselwetter drinnen im Warmen geblieben sind oder weil jeder weiß, dass es einen klügeren Weg gibt als diesen. Denn ja, diese Straße hat ihre besten Tage lange hinter sich. An einigen Stellen war nur noch eine Lenkerbreite übrig, etwa so viel wie die zwei Bananen in meiner Trikottasche aneinander gelegt. Am Grenzübergang nach Spanien, auf der Spitze des Puerto de Ibañeta (1.057 Meter), kommt es richtig runter. Bei Temperaturen zwischen drei und sieben Grad fahre ich etwa vier Stunden lang im strömenden Regen, bis ich auch ganz sicher sein kann, dass alle Schichten meiner sorgfältig ausgewählten Garderobe nass sind. Für eine Weile stelle ich mich unter einen Kastanienbaum. Da stehe ich. Und stehe. Und muss einsehen, dass das auch nicht hilft. Aufs Rad setzen. Vorankommen. Nach nur 150 von 1.600 Kilometern bin ich mir bereits unsicher, ob ich noch Füße habe, spüren tue ich sie auf jeden Fall nicht mehr. Zitternd komme ich an einem Café an, wo ich etwas unwürdig meine Schuhe unter dem Handföhn trockne, beglückt zwei Café con Leche in mich reinschütte, mit Vollgas eine Tortilla esse und mit selbigem auch weiterfahre. Plötzlich kommt die Sonne raus, es wird wärmer, die Straße trocknet. Meine Laune kehrt zurück, ich genieße die beeindruckende Landschaft und mir fällt wieder ein, warum Radfahren meine Leidenschaft geworden ist. Ich fahre und fahre, bis ich gegen 16:30 Uhr meinen Hunger trotz kontinuierlichem Snacken nicht mehr leugnen kann und vor mir eine Tapas Bar auftaucht, wo ich gefühlt einmal die gesamte Speisekarte bestelle. Danach geht es mit Vollgas weiter bis es dunkel wird. Ich fahre den zweiten festgelegten Abschnitt, einen Parcours (68,7 Kilometer mit 1.650 Höhenmetern) von Broto nach Plan. Gegen 22 Uhr treffe ich an einer Pizzeria einen anderen Teilnehmer, wir essen zusammen und fahren noch ein Stück gemeinsam. Selig erreiche ich mein Tagesziel in Escalona, kurz vor dem Ende des Parcours. Da die Temperatur nachts ungemütlich nah an den Gefrierpunkt rückt, begrabe ich meine romantische Vorstellung vom draußen Schlafen und nehme mir ein Hotel, wo ich nach einer heißen Dusche in einen kurzen, aber tiefen Schlaf falle.

  • Tag 2: Von Escalona nach la Seu d'Urgell – Trans Pyrenees Race No. 2 (253 km | 13:50 | 5 630 m) Ich starte top motiviert auf die übrigen 20 Kilometer des zweiten Parcours, fühle mich unbesiegbar – und dann kommt das Gravelstück. Einige Teilnehmer rollen mir wieder entgegen, da sie sich entschlossen haben, die Passage zu umfahren. No way, denke ich mir, ich steh aufs Graveln mit dem Rennrad! Leider klaffen meine Vorstellung von Gravel und der der Veranstalter ein wenig auseinander. 800 Höhenmeter auf zwölf Kilometern über Sand und Geröll sind ein gar nicht mal so entspannter Start in den Tag. Ich brauche fast zwei Stunden bis zum Puerto de Sahún (2.005 Meter) und auf dem Weg hoch verfluche ich immer wieder meine Entscheidung. Die Auffahrt ist verheerend, dafür ist die Abfahrt... Nein. Die Abfahrt ist auch schrecklich. Inzwischen meldet sich mein ramponiertes Handgelenk und ich könnte schwören, dass ich meine Achillessehne knarzen höre, so fest kralle ich mich mit den Füßen in die Pedale beim Versuch, beide Räder auf dem Schotter zu behalten. Schlitternd komme ich vor einer riesigen Kuhherde, die ebenfalls auf dem Weg nach unten ist, zum Stehen. Leider ist der dazugehörige Bauer sehr festgefahren in seiner Routenplanung (wohl kein komoot-Nutzer) und gibt mir mit Händen und Füßen zu verstehen, dass ich mir einen anderen Weg zu suchen habe. Ich finde einen Singletrail, der zum Rennradfahren sogar noch ungeeigneter ist als die Sand-Geröll-Melange von eben. Shout Out an die 28mm Continental 5000 an der Stelle! Tatsächlich werde ich das ganze Rennen über nicht einen einzigen Platten haben... Auf dem Weg zu einem unerwartet frühen mentalen Breakdown komme ich zumindest wieder auf einer asphaltierten Straße an. Trotzdem tun Hand und Achilles so weh, dass ich kaum noch treten und bremsen kann. Desillusioniert schaue ich auf mein Handy, von dem mir bestimmt 20 fröhliche, motivierende Nachrichten aus unserer sunnosun-Radgruppe entgegen blinken. Mit dieser Unterstützung im Rücken reiße ich mich wieder zusammen, finde bald einen Supermarkt, wo ich schnell ein Baguette mit Käse und zwei Cola verhafte und mich auf nach Andorra zum dritten Checkpoint in Os de Civis (2.150 Meter) mache. Ursprünglich lag ein weiterer Gravel-Abschnitt auf der Route, um den ich aber nach der Erfahrung eben mal ganz fix herum plane. Das halte ich so lange für eine weise Entscheidung, bis vor mir der unnötig lange und steile Port del Cantó (1.725 Meter) auftaucht. Unterwegs teile ich dem Berg auch des Öfteren mit, wie wenig ich von ihm halte. Es wurde sehr persönlich. Bevor ich ganz dem Wahnsinn verfallen kann, komme ich am nächsten Control Point an. Nach einem Tag, 17 Stunden und zwei Minuten erhalte ich also meinen zweiten Stempel. Ich rolle wieder aus Andorra raus, zurück nach la Seu d’Urgell, wo ich mir noch eine Pasta um Mitternacht gönne, in einem netten Hotel dusche und ein paar Stunden schlafe.

  • Tag 3: Von la Seu d'Urgell nach Le Boulou – Trans Pyrenees Race No. 2 (276 km | 15:18 | 4 830 m) Abfahrt um kurz nach fünf, Temperatur gleich Uhrzeit. Ich ziehe alles übereinander, was ich dabei habe. Inzwischen machen sich leichte Sitzprobleme bemerkbar, ich stelle den Sattel etwas höher, fühle mich direkt besser. Im Tal steht noch dicker Nebel, während ich Richtung Osten der aufgehenden Sonne entgegenfahre. Ich fühle mich klein in dieser beeindruckenden Landschaft, in der Ruhe, im Hier und Jetzt. Gegen 11 Uhr heißt es: Alles abwerfen, was geht. In diesem Rennen werden alle Jahreszeiten täglich einmal durchgespielt und mittags ist es fast schon zu heiß für das Pensum von mindestens 5.000 Höhenmetern am Tag. Meiner Hand geht es wieder etwas besser, allerdings tut das Bremsen (Felgenbremse, wohlgemerkt!) weh, die Achillessehne knarzt weiterhin rhythmisch und mysteriöserweise ist mein kleiner Fußzeh taub. Soweit das Rumgejammere – trotzdem will ich heute den nächsten Control Point am Cap du Baer erreichen. Meine insgesamt wohl doch nicht so ausgefeilte Routenplanung führt mich stellenweise über große, stark befahrene Straßen, aber eben auch über schmale Bergpässe, in denen ich unnötig ambitionierten Niederländern mit ihren aufgemotzten Edelkarossen begegne. Getunte Motoren – Heimatgefühl. In dem halbgaren Versuch, Kilometer zu sparen, habe ich mir selbst eine Menge fieser Höhenmeter eingebrockt. So langsam reicht es mir also mit Spanien und ich freue mich auf Frankreich, auf die Landschaft, auf die Straßen, das Essen, und vor allem auf die Menschen, die beim Vorbeifahren ihr Autofenster runterkurbeln, nicht, um einen zu verfluchen, sondern um einen anzufeuern. Allez, allez, allez! Ich rolle hinter dem Col d’Ares (1.513 Meter) über die Grenze, passiere den vierten passiven Control Point und mache mich im Sonnenuntergang auf zum nächsten Parcours Richtung Cap Béar. Berge zu fahren hat an sich schon einen besonderen Reiz. Eigentlich simpel und oft doch hart – ehrlich. Die Steigerung ist es, Berge in völliger Dunkelheit zu fahren: Unten im Tal vielleicht verstreute Lichter, irgendwann wird es egal, wie steil der Anstieg ist, wie lange er noch geht, es ist ohnehin kein Ende in Sicht, einfach nur die Gewissheit, dass du mit jeder Pedalumdrehung ein winzig kleines Stück weiterkommst. Nach zwei Tagen, 15 Stunden und 29 Minuten komme ich in tiefer Nacht an den fünften Control Point am Cap Béar. Vom Atlantik ans Mittelmeer in zweieinhalb Tagen. Ich bin immer wieder begeistert davon, was der menschliche Körper leisten kann. Diese Leistung zugegebenermaßen nicht ganz würdigend, drücke ich mir sechs Burger und zwei Pommes bei McDonald’s rein und pushe noch weiter bis zum nächsten Hotel.

  • Tag 4: Von Le Boulou nach Tarascon-sur-Ariège – Trans Pyrenees Race No. 2 (205 km | 11:54 | 4 540 m) Ich frühstücke die zwei übrigen labbrigen Cheeseburger von gestern und starte gut gelaunt in den Tag: Heute komme ich zum Return Parcours (621 Kilometer mit 17.280 Höhenmetern), von dem ich mich 2021 so sehr hatte bezirzen lassen, dass ich mir dieses Unterfangen hier ausgesucht habe. Schmerzende Hand, Achilles, tauber Fußzeh, alles egal beim Gedanken an die wartenden Pinienbäume und den Col de Pailhères, an den ich ganz selige Erinnerungen habe. Ich überhole einige Mitfahrer und unterhalte mich mit einem Leidensgenossen, der die Verpflegungslage etwas zu optimistisch eingeschätzt und nun kaum noch Wasser und an diesem Tag nichts gegessen hat. Die Verpflegung auf der französischen Seite gestaltet sich tatsächlich schwieriger als auf der spanischen und ich hätte ihm so gerne etwas abgegeben, aber das wäre ein klarer Regelverstoß in diesem Rennen. Self supported – keine Hilfe von Fremden. Zum Glück kommt vor dem Aufstieg zum Col du Garavel (1.256 Meter) ein kleiner Supermarkt, den ich gefühlt leerkaufe, da ich fürchte, für die nächsten 4.000 Höhenmeter keinen Laden mehr zu finden. So ist es dann auch. Die Auffahrt zum Garavel ist traumhaft schön, durch die Gorges de Saint Georges sogar relativ flach, bis nach einem winzigen Bergdorf eine nie zu enden scheinende Rampe auftaucht und mir bewusst wird, wie viel Masochismus dazu gehört, überhaupt an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Egal, ich habe Bock und genug zu Essen. Und – besonders wichtig – die mentale Stärke, um mein inzwischen knackendes Tretlager zu ignorieren. Ich nehme das Geräusch von Metall auf Metall als Meditationsübung an und entwickle eine Cast-Away-mäßige Volleyballbeziehung dazu. Hinauf geht es zum Col de Pailhères (2.001 Meter), den ich wohl romantisch verklärt hatte, denn an diese toughen zwölf Kilometer mit 9 % im Durchschnitt kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Mir wird warm ums Gemüt und auch echt warm in den Beinen. Es ist unerträglich heiß, aber oben liegt sogar noch ein bisschen strahlend weißer Schnee. Am Ende des Tages bin ich ziemlich durch und entscheide mich, etwas früher Schluss zu machen. In Tarascon-sur-Ariège esse ich gut, nehme mir ein Zimmer, wieder Dusche, wieder viel zu wenig Schlaf.

  • Tag 5: Von Tarascon-sur-Ariège nach Arreau – Trans Pyrenees Race No. 2 (193 km | 11:48 | 4 830 m) Langsam unleugbar geschlaucht schwinge ich im Dunklen bei um die fünf Grad meinen geschundenen Hintern in den Sattel. Müde. Leer. Doch nach nicht mal zehn Minuten Fahrt attackiere ich mal so richtig: In einer Boulangerie esse ich in Rekordgeschwindigkeit drei Schokocroissants und eine Quiche, schütte zwei Cappuccini hinterher und lasse mir das Gleiche nochmal zum Mitnehmen einpacken. Mit Zuckerschock und Koffeinüberdosis fahre ich in der Dämmerung rauf zum Col d’Agnes (1.570 Meter). Im Dämmerlicht erkenne ich einen See mitten am Berg, sehe wilde Pferde und riesige Geier. Keine Menschenseele weit und breit. Nach einer kurzen Zwischenabfahrt folgt der restliche Anstieg. Ich erreiche den Gipfel gerade als die Sonne aufgeht. Von hier aus reicht der Blick weit in die Pyrenäen hinein. Doch statt wie letztes Jahr minutenlang ehrfürchtig zu genießen, grüße ich nur kurz die wilden Pferde mit einem hessischen „Ei, Gude!“ und werfe mich die Abfahrt hinunter. Das Bremsen tut von Tag zu Tag mehr weh und ich merke, wie mir das Rennen an die Substanz geht. Bei jeder Möglichkeit mache ich Halt, um Essen zu kaufen, mein Tag besteht ganz plump aus dem Verbrauchen und Auffüllen von Kalorien. Rauf auf den Col de la Core (1.350 Meter), wieder runter, rauf auf den Col de Menté (1.349 Meter), der mir den Stecker zieht. Es ist 16 Uhr und es sind mindestens 237,5 Grad Celsius. Ich sehne die Gaststätte auf dem Gipfel herbei, fantasiere schon von den Pommes, nur um die Herberge geschlossen vorzufinden. Dafür gibt es hier den besten Brunnen (oben Wasser, links Bier), alles auffüllen und Abfahrt. An einem Supermarkt hole ich mir fix ein halbes Hähnchen mit Bratkartoffeln und schlemme beides direkt völlig enthemmt auf einem staubigen Parkplatz um die Ecke. Die Berge werden immer enger und ich sammle auf 200 Kilometern knapp 5.000 Höhenmeter, bis die Sonne untergeht. Im Dunkeln klettere ich auf den Col de Peyresourde (1.563 Meter), keine Wolke am Himmel, nur der Mond, die Sterne und gefühlt tausend Augen, die mich beobachten. Oben angekommen schalte ich kurz alle Lichter aus und genieße die Einsamkeit, fühle mich eins mit der Natur. Dann rascheln Tiere durchs Gestrüpp neben mir, das wird mir dann doch etwas zu einsam und zu natürlich. Auf der Abfahrt bin ich bremsbereit, ständig hüpfen Rehe vor mir über die Straße. In Arreau entscheide ich mich, es für heute gut sein zu lassen und mache Halt auf einem Campingplatz. Ich dusche heiß und lege mich in meinen bis dahin noch jungfräulichen Biwak auf die Wiese. So richtig harmonieren der Biwak und ich allerdings nicht und nach einer Stunde Herumwälzen im feuchten Gras schlage ich mein Nachtlager dann lieber in der Toilette für Menschen mit Behinderung auf.

  • Tag 6: Von Arreau nach Saint-Jean-de-Luz – Trans Pyrenees Race No. 2 (332 km | 20:16 | 8 240 m) Um 4:32 Uhr klingelt der Wecker in meiner komplett gefliesten Unterkunft. Zum Frühstück habe ich nichts außer einem Gel und starte mit einem flauen Gefühl im Bauch um kurz nach fünf auf den Col d'Aspin (1.489 Meter), wo ich zeitgleich mit der Sonne eintreffe. Zum Genießen bleibt leider keine Zeit, denn ich habe mich entschlossen, das Rennen heute zu finishen. Die Vorstellung, mich noch einmal hinzulegen und noch einmal aufstehen zu müssen, mich nochmal morgens in den Sattel zu quälen, ist schlimmer, als die gut 8.000 Höhenmeter am Stück durchzuziehen. Um diese Uhrzeit ist die Nahrungssuche erfolglos und zack steht der Col du Tourmalet (2.110 Meter) vor mir. Ich habe selten so sehr gelitten und suche Zuspruch in meiner Radgruppe. Die Jungs waren ein Traum: „Heul nicht rum, dafür hast du das ganze Jahr trainiert!“ Ich mach ja schon. Angriff. Ich ziehe aus jeder Ecke meines Körpers Energie, schiebe mich den Berg hoch. Oben angekommen sehe ich die bunten Malereien der Guiltys von der Tour de France, sehe Lamas, sehe aber nichts zu essen. Schnell die Jacke an, hier oben sind an die null Grad und runter. Wie eine Fata Morgana taucht vor mir plötzlich eine Boulangerie auf, fünf Croissants, eine Cola, zwei Cappuccini, eine Pizzaschnitte, die Verkäuferin muss denken, dass ich völlig den Verstand verloren habe. Ich stopfe so viel ich kann in meine Trikottaschen: Backwaren immer am Mann! Den nächsten Carrefour überfalle ich ebenfalls nochmal und ab geht die Post. Von der Rennleitung bekomme ich die Information, dass es wegen einer nicht passierbaren Brücke eine Routenänderung gibt und muss umplanen. Kein Problem, bin ja nicht der Bauer von Tag 2, bin ja flexibel. Weiter, Höhenmeter machen, den Col du Soulor (1.474 Meter) abhandeln, den Col d'Aubisque (1.709 Meter) genießen, der Col de Marie-Blanque (1.035 Meter) ist dekoriert mit bunten Kühen, ausgerechnet die niedrigen Col de Lie (600 Meter) und Col d’lchere (718 Meter) sind miese kleine Wichte. An einer kleinen Bar schnacke ich bei einer Cola noch kurz mit dem Besitzer, der mich an mich selbst und meinen kleinen Laden erinnert und los geht es auf die zwei letzten Cols des Rennens. Der Col du Soudet mit 1.540 Höhenmetern auf 21,5 Kilometern fordert die Teilnehmer noch einmal heraus, weil man zwar sanft bergauf startet, die zweite Hälfte aber durchschnittlich 9 % hat. Es wird dunkel. Wind kommt auf und es zieht zu. Ich bin mitten im Nichts. Fahre durch die Wolken, meine Sicht wird immer geringer, bis ich mich nur noch anhand der Mittellinie und meinem Wahoo überhaupt orientieren kann. Gruselig, aber auch geil. Ich freue mich dem Endgegner entgegen, aber vorher muss ich heil die Abfahrt runterkommen, mit kaum Sicht hier mitten in der feuchten Zuckerwatte aus Wolken, alles nass, von meinen Wimpern läuft Wasser, obwohl es nicht regnet. Unten auf nur noch 380 Höhenmetern wird es wieder klar und ich fahre durch die einsamste Passage der Pyrenäen zum Col de Bagargui (1.327 Meter) der auf 8,8 Kilometern mit 12,8 % glänzt. Ich kenne den Anstieg aus dem Jahr zuvor und weiß, was auf mich zukommt. Noch 90 Kilometer bis ins Ziel und etwas über 2.000 Höhenmeter. Ich kämpfe mich Kurve um Kurve den Bagargui hoch, höre wieder Kühe, sehe aber mitten in den Wolken nichts von ihnen. Ich merke, dass es flacher wird, das muss der Gipfel sein, es ist 2 Uhr nachts. Meine Flaschen sind leer, meine Snacks sowieso, meine Rücklichter ebenfalls und ich allen voran. Meine Helmlampe leuchtet schüchtern auf der schwächsten Stufe. Nur noch 70 Kilometer bis zum Ziel, es geht bergab, alles wird gut, in zwei Stunden bin ich da. Pustekuchen. Durch einige unnötige „Abkürzungen“ kommen mir immer wieder tückische Gegenanstiege mit über 10 % in die Quere, es tut wirklich alles weh. Mittlerweile sitze ich seit 18 Stunden im Sattel und habe die 8.000 Höhenmeter geknackt. 20 Kilometer vorm Ziel geben meine Lichter kollektiv den Geist auf. Trotzdem kann ich mich über mein Equipment nicht beschweren – ich hatte die ganze Tour über nicht einen einzigen Defekt. Es ist vier Uhr in der Nacht, 20 Stunden Fahrzeit. Nur noch 15 Kilometer, ich kann nicht mehr, ich will mich einfach nur an den Straßenrand legen und ein Nickerchen machen, mir laufen die Tränen, was tue ich hier eigentlich? Mit Karacho rolle ich in Saint-Jean-de-Luz ein, biege nachts um 4:44 Uhr auf die Zielgerade, höre Menschen applaudieren. Nach fünf Tagen, 22 Stunden und 26 Minuten komme ich auf Platz 27 im Ziel an. Ich schaffe es kaum vom Rad runter, an Laufen ist nicht zu denken, der Empfang ist wahnsinnig nett, Bier, fixes Foto, mal kurz in den für die Finisher bereitgestellten Wohnwagen gesetzt und dann Richtung Unterkunft. Nach zwei Stunden Schlaf bin ich plötzlich hellwach. Wo ist mein Rad? Welcher Berg kommt jetzt? Wie weit, wie hoch, wie warm, wie kalt, wie viele Kühe? Ich realisiere erst am Abend bei der Finisher Party, dass ich das Rennen wirklich beendet habe und jetzt herunterfahren kann. Für die nächsten Tage wird Essen zu meiner Hauptbeschäftigung.

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Graveln in Ostholstein mit The Gravel CLub